Das soziale Brennnesselbrot
Seit 3 Jahren wird beim Frühlingsfest in Steinbergen Brennnesselbrot verkauft. Als ganzes Brot oder wahlweise als Scheibe mit würziger Wildkräuterbutter oder wilder Frühlingsremoulade dekoriert mit essbaren Blüten der Saison.
In Kooperation mit der Bäckerei Bredow entsteht ein einzigartiges: warmes knuspriges Steinofenbrot mit frischen, von Hand gepflückten, Brennnesseln.
Die Brote sind inzwischen heiß beliebt. Herr Bredow würde sie gern in sein Brotsortiment aufnehmen, aber wo sollen die frischen Brennnesseln herkommen?
Es gibt in ganz Deutschland kein einziges Brennnesselfeld! Und das ich täglich frische Brennnesseln von Deckbergen ins 9 km entfernte Rinteln bringe, steht in keinem Verhältnis zu Preis oder gar ökologischem Aufwand.
Also, was tun? Um die Nachfrage bei den von mir persönlich aufgeklärten und überzeugten potenziellen Kunden befriedigen zu können und ein ausgewogenes Preis-Leistungsverhältnis gewährleisten zu können, müssen Brennnesselfelder her. Das ist nicht so leicht.
Einfach aussäen, ein paar Monate wachsen lassen und ernten funktioniert hier nicht. Die große Brennnessel ist eine Staude, man kann sie theoretisch aussäen, das ist aber sehr langwierig und unsicher. In der Praxis werden Brennnesselfelder gepflanzt. Im Falle der Fasernesselfelder kostet so ein Anpflanzen von Jungpflanzen von Hand nach telefonischer Auskunft einer Landwirtin ca. 1000 Euro pro Hektar.
Hinzu kommt, dass ein solches Feld ein Jahr lang einwachsen muss. Die erste Ernte kann also erst 2 Jahre nach der Pflanzung erfolgen. Zum Vergleich ein paar Daten zum Spinatanbau: Der einjährige Spinat wird ausgesät, dann gepflanzt (maschinell oder per Hand?) , entweder einmalig als Rosette geerntet (7 kg/Quadratmeter) oder 3malig geerntet mit jeweils ca. 2 kg/Quadratmeter) und danach untergepflügt. Die Erntemenge von Brennnesseln dürfte ähnliche Mengen ergeben, nur mit dem Unterschied, dass ein einmal angepflanztes Brennnesselfeld etwa 6-7 mal pro Jahr geerntet werden kann und das nicht nur über Jahrzehnte sondern auch auf schattigen Flächen und ebenfalls im Rahmen der immer interessanter werdenden Agroforstbestrebungen.
Doch mit der Ernte ist es noch nicht getan: Frisch geerntete Brennnesseln müssen schnell verarbeitet werden! Um die Ernte eines ganzen Feldes zum Beispiel zu Brot zu verarbeiten bräuchte man eine größere Menge an Bäckereien. Wir haben für 500g Brot 70g frische Brennnesseln verwendet. Bei einer durchschnittlichen Feldgröße von ca. 2 ha also 20 000 Quadratmetern ergäbe das pro Ernte eine Menge von etwa 40 000 kg Brennnesseln!
Wenn man von einem Mindestanteil von 10 % Brennnesseln pro Brot ausgeht, ergibt das pro Ernte, bei 500g-Broten, eine Summe von 800 000 Broten.
Man bräuchte also ein paar mehr interessierte Bäckereien J
Dazu den nötigen Marketingmix aus Werbung, Distributionswegen etc.
Ich gebe zu, die Vermarktung der Brennnessel ist eine echte Herausforderung!
Diese Herausforderung steht jedoch genau im Zusammenhang mit der viel geforderten Ernährungswende. Die Bäcker laufen Sturm gegen die Konkurrenz der großen Konzerne. Gegen eine unüberschaubare Menge an gekennzeichneten und nicht gekennzeichneten Zusätzen, dem allgegenwärtigen Preisverfall, dem Verlust von Wissen der Verbraucher und des Know-How der Bäcker und vielem anderen mehr.
Am Beispiel der Brennnessel als Symbol unserer gegenwärtigen und zukünftigen Kultur und der Einführung des Brennnesselbrotes als nährstoffreiches, eiweißreiches und gesundes Grundnahrungsmittel kann etwas Einmaliges entstehen:
Ein Zeichen der Veränderung, ein gemeinsames Ziel von Produzenten und Konsumenten und eine gemeinsame, gemeinschaftliche und gesellschaftliche Anstrengung mit anderen Worten:
Das soziale Brennnesselbrot
Das Brot als ältestes von Menschen hergestelltes handwerkliches Produkt braucht Getreide, Wasser und Salz. Mehr nicht! Durch natürliche Bakterien und Hefen aus der Luft entstanden Natursauerteig und Hefeteig, die den Brotteig lockerer machten.
In Notzeiten wurde der Brotteig gestreckt durch sogenanntes Streckmehl. Dieses Streckmehl bestand aus getrockneten Wurzeln, Blättern und Samen. Auch frische pflanzliche Zutaten bereicherten das Brot unserer Vorfahren. Dieses Strecken des Brotes hielt unsere Ahnen gesund. So lange bis es nicht mehr um das Überleben der Gemeinschaft ging, sondern um den Profit des Einzelnen. Im den Zivilisationen der Vergangenheit kam es immer wieder zum Strecken des Teiges mit Gesteinsmehl zur Gewichtsmanipulation. Der Begriff des Streckmehls bekam eine negative Bedeutung.
Ein Produkt wie das soziale Brennnesselbrot mit einheitlicher Grundrezeptur hätte viele Vorteile: es gewährleistet dem Kunden überschaubare und nachvollziehbare natürliche Zutaten: Getreide, Wasser, Salz, Hefe und/oder Natursauerteig und last not least einem mindestens 10 prozentigen Anteil frischer Brennnesseln, für die unmerkliche Anreicherung eines Grundproduktes mit Gemüse, bekanntlich eine Nahrungsmittelgattung die bei heutigen Ernährungsgewohnheiten oft zu kurz kommt (im Winter eine entsprechende Menge getrockneter Brennnesselblätter und Brennnesselsamen). Die jeweiligen Bäcker hätten trotzdem noch kreativen Spielraum der individuellen Herstellung (verwendete Getreidesorte oder –mischung, Brennnesselmenge, Salzmenge…).
Doch nicht nur das: Es könnte das erste Brot mit einer freiwilligen Preisbindung sein! Ein fairer Preis, der sich errechnet aus dem Kilopreis frischer Brennnesseln (gegenwärtig fair für maschinengeerntete Frischware wären etwa 3 Euro pro kg), der anderen Zutaten und den Betriebs- und Personalkosten der Produzenten. Ich denke ein Durchschnittspreis von 3 Euro wäre derzeit realistisch. Dies würde bedeuten, dass bei großen Produzenten eine größere Gewinnspanne entstehen würde, als beim kleinen Bäcker um die Ecke.
Was macht man mit dieser Gewinnspanne? Es gibt 2 Möglichkeiten: entweder die kleinen Bäcker bekommen das Grundbrot, genauso wie Supermärkte und Co. fertig in die Bäckerei geliefert und haben mehr Zeit für andere individuelle Backkreationen, oder die unverhältnismäßigen Gewinne der großen Bäckereikonzerne werden einem allgemein förderndem Zweck beispielsweise der Forschung und Innovation von neuen Grundnahrungsmitteln zugeführt.
Wer macht den Anfang? Wo entsteht das erste Brennnesselfeld für die Nahrungsmittelproduktion in Deutschland?
Am 02.08.2015 findet der erste Tag der Brennnessel statt. Er soll dazu dienen die vergessenen Vorzüge der Brennnessel in die Öffentlichkeit zu tragen. Er wird im Gemeinschaftsgarten Tausendschön in Minden stattfinden. Hoffentlich finden sich bis dahin außerdem noch viele andere Organisatoren, die parallel dazu Veranstaltungen auf die Beine stellen.
Der Monat August wurde nicht zufällig ausgewählt: zusätzlich zu den frischen Brennnesseltrieben, können in dieser Zeit auch die wertvollen Brennnesselfrüchte geerntet werden. Außerdem lässt sich dann einfach feststellen, ob eine Brennnessel weiblich oder männlich ist.
Wenn man ein Brennnesselfeld anpflanzt, sollte man dafür Brennnesselweibchen auswählen. Im Gegensatz zu den männlichen Exemplaren, lassen sie sich nicht nur regelmäßig als frisches Blattgemüse ernten (etwa 1 mal im Monat in der Vegetationszeit) sondern können auch alternativ als Faserpflanze genutzt werden, die parallel zur Faser hochwertige Früchte für die Lebensmittelherstellung und Blätter für die Düngemittelproduktion, bzw. als Tierfutter o.ä.
Da wir in der Vorbereitung des Brennnesselfestes sowieso bei der Ernte der Samen die Brennnesselweibchen in der Hand haben, könnten wir sie auch herausziehen, und die Wurzeln mitnehmen um ein Feld damit anzupflanzen. So mancher Grundstücksbesitzer würde sich freuen von den Pflanzen befreit zu werden 😉
Wir haben für die Brennnesselernte für´s Frühlingsfest in Steinbergen zu Dritt 20 Minuten gebraucht um 1,5 Kg frische Brennnesseln zu pflücken. Wir haben die Stängel nicht gezählt, aber 1000 waren es mindestens. Wie viele Stecklinge braucht man wohl für ein 2 ha großes Feld? 16 pro Quadratmeter? 160 000 pro ha, also 320 000 Wurzeln für ein 2 ha großes Feld! Man bräuchte also für ein durchschnittlich großes Feld von 2 ha etwa 320 Freiwillige, die etwa 1 Stunde arbeiten, um die Stecklinge zu ernten und mindestens ebenso viel Zeit um die Stecklinge zu pflanzen. Ausgehend von einem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde würde für die Gesellschaft durch die Pflanzung eines 2 ha großen Brennnesselfeldes ein finanzieller Mehrwert von 5 440 Euro entstehen. Mal ganz abgesehen von dem Wert, den das Feld in den kommenden Jahren einbringen wird!
Wird es gelingen Landwirte zu finden, die geeignete Flächen ohne Geld zur Verfügung stellen, und genug Freiwillige zu mobilisieren? Einfach um zu beweisen, dass die Gemeinschaft mehr erreichen kann, als alle Förderprogramme und alles Geld der Welt? Einfach um zu beweisen, dass Geld umgewandelte Arbeitskraft ist und Arbeitskraft nicht auf der Bank liegt?
Und wenn es gelingt, das erste soziale Brennnesselfeld Deutschlands anzupflanzen, Wird es gelingen Nahrungsmittelproduzenten zu gewinnen, die im Rahmen der Corporate Social Responsibility an dem Projekt mitzuarbeiten? Oder sogar einfach aus Vernunftgründen oder aus Solidarität?
Oder wird es gar gelingen deutschlandweit das soziale Brennnesselbrot in den Regalen zu etablieren? Zu einem einheitlichen Preis? Einfach weil auch Institutionen wie die Landwirtschaftskammer oder die zuständigen Ministerien mithelfen?
Wird es in der Zukunft gleichen Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Preise für gleiche Leistungen geben oder einfach eine Gemeinschaft, die füreinander da ist?
Ich bin gespannt!
Dies ist eine erste Ideenskizze. Für Kritik (auch positive ;)) und Anregungen bin ich sehr dankbar!